„Wir fördern Hilfe auf Gegenseitigkeit. Wir nutzen die Strukturen der Selbsthilfeform einer Genossenschaft.“

In Bocholt wurden mit der Gründung des Vereins Leben im Alter e.V. (L-i-A) im Jahr 2005 wesentliche Voraussetzungen geschaffen, um auf die Bedarfslagen älterer Menschen zu reagieren. Der Verein widmet sich der Gestaltung und Unterstützung eines selbständigen und selbstbestimmten Lebens im Alter, nach dem Motto „ambulant vor stationär, d.h. solange wie möglich zuhause alt werden zu können. Adi Lang, Mitglied im Verein L-i-A und zuständig für ehrenamtliche Seniorenarbeit, und Andrea Unland, stellvertretende Vorstandsvorsitzende, beantworten in einem Interview Fragen zur Bocholter Bürgergenossenschaft eG, deren Gründungsversammlung am 6. Dezember 2013 stattfand.

Obwohl haushaltsnahe und soziale Dienstleistungen für ältere Menschen oft ausschlaggebend sind, um selbständig leben zu können, gibt es noch Lücken in der Versorgung: Die offiziellen Dienstleistungen sind oft finanziell derartig aufwendig, als dass sie als gemeldete Beschäftigungsverhältnisse in Anspruch genommen werden können. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, ein System zu entwickeln, das langfristig finanzierbare haushaltsnahe und niederschwellige Dienstleistungen für ältere Menschen gewährleistet.

Über die „Bocholter Bürgergenossenschaft eG – Dienstleistungen für das Alter gemeinsam und nachhaltig gestalten“ (BBG eG) soll der Bedarf an individuell abgestimmten, qualitativ guten und bezahlbaren Dienstleistungen für Ältere gedeckt werden. Angestrebt wird die Optimierung der wohnortnahen Versorgung in allen Stadtteilen in Bocholt. Dabei sollen das Stadtzentrum und ländlich geprägte Ortsteile gleichermaßen einbezogen werden.

Wie entstand die Idee zur Bocholter Bürgergenossenschaft eG?

Adi Lang

Adi Lang: Die erste Idee kam mir im Oktober 2011 nach einem Vortrag von Professor Dr. Gerhard Naegele vom Institut für Gerontologie an der TU Dortmund. Thema war das „Alter als individuelle und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe mit besonderer Beachtung der Situation in NRW“. Anschließend nahm ich Kontakt zu Professor Dr. Naegele auf.

Andrea Unland und ich entwickelten gemeinsam mit Dr. Elke Olbermann und Dr. Andrea Kuhlmann, beide von der Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V., das Konzept „Bocholter Bürgergenossenschaft eG – Dienstleistungen für das Alter gemeinsam und nachhaltig gestalten“. Zwischenzeitlich haben wir das Aufgabenfeld erweitert. Die Genossenschaft leistet Dienste für alle Generationen zur Bewältigung des Alltags beim Leben im Alter und bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Im Juli 2013 erhielten wir die Zusage vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, dass die BBG eG über das Förderprojekt „Altersgerechte Versorgungsmodelle, Produkte und Dienstleistungen“ des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung unterstützt wird. Die Konzeptentwicklung und Erprobung der BBG eG wird durch das Institut für Gerontologie an der TU Dortmund wissenschaftlich begleitet. Es soll überprüft werden, inwieweit mit der BBG eG ein nachhaltiges, tragfähiges und übertragbares Geschäftsmodell für bislang nicht marktfähige Dienste für das Alter entwickelt werden kann.

Welche gesellschaftliche Herausforderung wollen Sie mit der Bürgergenossenschaft lösen?

Andrea Unland

Andrea Unland: Über L-i-A- haben wir erfahren, dass viele ältere Menschen zwar den Bedarf an niedrigschwelligen und haushaltsnahen Dienstleistungen haben, es sich aber oft nicht leisten können, dabei auf professionelle Dienste zurückzugreifen. Wir sind immer länger alt und irgendwann reicht das Budget einfach nicht mehr aus. Davon sind nicht nur Menschen betroffen, die eine Pflegestufe haben.

Die Genossenschaft will dieses Problem nicht nur lösen, sondern knüpft durch den Gedanken der Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit auch an Ressourcen der Mitglieder an.

Wer kann Mitglied der Bocholter Bürgergenossenschaft eG werden? Gibt es eine Entlohnung für die „Dienstleister“?

Adi Lang: Wir wollen die Dienstleistungen zu einem erschwinglichen Preis pro Stunde anbieten. Die „Dienstleister“ sind bei uns Freiwillige, die sich überlegen können, ob sie eine Aufwandsentschädigung erhalten möchten oder sich die Zeit gutschreiben lassen wollen. Wenn sie die Aufwandsentschädigung wählen, sind alle weiteren Ansprüche abgegolten.

Freiwilligen die ein Zeitkonto aufbauen, können für ihren Einsatz entsprechend die Zeit gutschreiben lassen, um diese später, wenn sie selbst einmal Hilfe benötigen, wiederum in Form von Diensten in Anspruch nehmen.

Menschen, die nicht genügend finanzielle Mittel besitzen, um sich die Dienstleistungen einzukaufen, und zeitgleich auch nicht über die Ressourcen verfügen, sich ein Zeitkontingent zu erarbeiten, möchten wir über kostenlose Dienstleistungen mittels Spenden unterstützen.

 Ihre Angebote überschneiden sich teilweise mit den Angeboten der etablierten Wohlfahrtsverbände. Wie haben diese darauf reagiert?

Andrea Unland: Handlungsleitend ist bei uns, dass die BBG eG nicht als Konkurrenz zu bestehenden Dienstleistern auftritt, sondern ergänzend neben und in Kooperation mit öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Anbietern agieren will. Daher haben wir alle relevanten Institutionen, Verbände, Gruppen und Vereine in Einzelgesprächen informiert und sie eingeladen, sich an der Bocholter Bürgergenossenschaft eG zu beteiligen. Die BBG eG ist eine gute Ergänzung von professioneller Hilfe und familiären Unterstützungsleistungen

Adi Lang: Vernetzung ist und bleibt ein wichtiges Thema für uns. Ab Februar 2014 werden wir alle relevanten Akteure zu Werkstattgesprächen einladen. Hier werden wir uns dann vom Institut für Gerontologie begleitet in Gruppen zusammensetzen und unsere Feinplanung abstimmen. Wer mitmachen will, ist jederzeit herzlich willkommen, denn wir sind auf Kooperation angewiesen. Wir streben an, eine umfassende Angebotspalette vorzuhalten, um unseren Mitgliedern eine optimale Unterstützung bieten zu können.

Kritiker könnten sagen, dass Sie stark in die kommunale Daseinsvorsorge eingreifen, der Kommune viel Arbeit wegnehmen. Wie reagieren Sie auf diese Rückmeldungen?

Adi Lang: Wir können alle aus Erfahrung feststellen, dass die Kommunen in Zukunft freiwillige Leistungen nicht mehr so umfassend anbieten können. Zudem denke ich, dass wir den Seniorinnen und Senioren, zu denen ich ja auch zähle, klar sagen müssen: Wir haben nicht nur Rechte aufgrund unserer Erwerbsbiografie, sondern auch die Pflicht, in unserer Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Für mich persönlich gilt: Ich bin 70 Jahre und möchte mich für eine solidarische Gemeinschaft und eine möglichst lange Selbständigkeit engagieren und andere mitnehmen!

Mit der Kommune haben wir von Anfang an eng zusammen gearbeitet, wir sind gut vernetzt mit dem Sozial-, Jugend- und Bürgermeisteramt. Aus dem Verwaltungsbereich hören wir, dass die Stadt die Strukturen, die L-i-A hat und die jetzt von der BBG eG geschaffen werden, alleine gar nicht hätte aufbauen können.

Die meisten Seniorengenossenschaften sind zwar nach genossenschaftlichen Prinzipien organisiert, aber wählen als Rechtsform den Verein. Warum haben Sie sich für eine eingetragene Genossenschaft entschieden?

Adi Lang: Zwei Vorteile einer Genossenschaft sind wesentlich: Es besteht eine hohe wirtschaftliche Sicherheit durch eine unabhängige Prüfung und die Mitglieder zahlen keinen Beitrag, sondern leisten einen Genossenschaftsanteil, den sie bei einem eventuellen Austritt wieder mitnehmen können.

Das Wichtigste aber ist die Selbsthilfeform einer Genossenschaft. Wir fördern die Hilfe auf Gegenseitigkeit.

Andrea Unland: Ein Verein verfolgt ideelle Ziele, wie wir auch. Bei einer Genossenschaft kommt aber noch das wirtschaftliche Interesse hinzu, den wir in unserem Geschäftsbetrieb verfolgen.Hier müssen wir beweisen, dass wir wirtschaftlich arbeiten können.

Wer kann Mitglied werden?

Adi Lang: Die Mitgliedschaft ist offen für alle Bocholter Bürgerinnen und Bürger: Für natürliche Personen, Personengesellschaften und Unternehmen, die Arbeitnehmer/-innen beschäftigen. Die Höhe des Genossenschaftsanteils wird sich bei ca. 100,- € einpendeln.

Ehrenamtlich Tätige können Geschäftsanteile durch Eigenleistung erwirken, respektive – wie bereits erwähnt – ihre Leistung mittels Zeitkonto oder durch Aufwandsentschädigung vergüten lassen.

Wie wollen Sie die Bürgergenossenschaft finanzieren?

Adi Lang: Durch die Förderung des Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter das Landes NRW und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung haben wir eine finanzielle Sicherheit bis Mitte 2015. Diese Zeit müssen und werden wir nutzen, um Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen von unserem Projekt zu überzeugen und sie zu gewinnen.

Wir sind mit vielen Bocholter Unternehmen im Gespräch, die auch schon ihr Interesse signalisiert haben Mitglied zu werden. Unsere Zielsetzung für die Bocholter Firmen heißt: Unterstützung und Betreuung ihrer Beschäftigten zur Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf bzw. Pflege und Familie, durch Vermittlung und Erbringung umfassender Dienstleistungen. Ich denke, wir werden durch unser gebührendes Leistungspotential eine solide finanzielle Basis schaffen können. Unsere Einnahmequellen werden analog dazu Jahresgebühren sein. Wir rechnen aber auch mit Spenden und Zuschüsse.

Was sind Ihrer Meinung nach die Erfolgsfaktoren bei der Gründung der Bocholter Bürgergenossenschaft eG gewesen?

Andrea Unland: Wenn wir in die Anfangsphase zurückblicken, ist sicher ein Erfolgsfaktor, dass bei unseren Gesprächen mit vielen Menschen deutlich wurde, dass wir die demographische Entwicklung aktiv gestalten müssen. Alle waren sich einig, dass Handlungsbedarf besteht und die Zeit drängt. Diese positive Resonanz und der Wille, mitmachen zu wollen, sind wichtige Faktoren.

Adi Lang: Dem kann ichnur zustimmen. Die Erkenntnis ist da, dass so etwas wie die BBG eG erforderlich ist. Die meisten, denen wir von der Idee berichtet haben, sind begeistert und viele haben uns schon ihre ehrenamtliche Unterstützung avisiert.

Andrea Unland: Wichtig war und ist mit Sicherheit der hohe Einsatz von Adi Lang, der als Impulsgeber andere mitgezogen hat. So können die vielen Aufgaben der BBG eG nun auch auf viele Schultern verteilt werden. Natürlich hatten wir einige Durstrecken zwischendurch. Aber wir haben es als zwei Menschen mit unterschiedlichen Stärken und in der Kombination Haupt- und Ehrenamt gut geschafft, uns immer wieder zu motivieren und mitzuziehen. Die viel beschworene Augenhöhe war nie ein Thema zwischen uns, sondern selbstverständlich.

Adi Lang: Ein weiterer Erfolgsfaktor sind gut vernetzte freiwillig Engagierte, die gerade in den Ruhestand gegangen sind, viel Vertrauen in Bocholt genießen und uns unterstützen. Dadurch eröffnen sich Ressourcen, um viele Aufgaben wie Marketing, Zeitmanagement, Öffentlichkeitsarbeit zu bewältigen.

Was sind Ihre größten Herausforderungen in der Zukunft?

Andrea Unland: Die größter Herausforderung ist sicher die langfristige Finanzierung über die Anschubfinanzierung durch das Ministerium hinaus und das Zusammenwirken zwischen haupt- und ehrenamtlichen Kräften. Was Adi Lang und ich bewerkstelligen, muss nun auf größere Ebenen übertragen werden.

Was würden Sie anderen empfehlen, die eine Bürgergenossenschaft gründen wollen?

Adi Lang: Es ist schwer, hier eine Empfehlung abzugeben. Die Anforderungen sind so unterschiedlich – Ist es eine städtisches oder ein ländliche Region? Welche Ziele verfolgt die Genossenschaft? Wer sind die Akteure? Wenn man sich die Genossenschaften in Baden-Württemberg anschaut, sieht man, dass einige sich inzwischen auf wenige Dienstleistungen beschränken – auch das kann passen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Andrea Unland: Ich wünsche mir, dass wir dieser gesellschaftlich bedeutungsvollen Herausforderung gerecht werden. Unser praktisches Wissen bezüglich der Umsetzung ist noch in den Anfängen. Wir brauchen Menschen, die sich mutig und tatkräftig mit uns gemeinsam auf den Weg machen.

Adi Lang: Gesund zu bleiben und dem Projekt langfristig zur Tragfähigkeit verhelfen zu können.

Frau Unland, Herr Lang, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Gabi Klein, Forum Seniorenarbeit NRW, im Dezember 2013

 Kontakt

Bocholter Bürgergenossenschaft eG, Europa-Haus
Adenauerallee 59
46399 Bocholt
Tel. 02871 / 21765 66
info@bocholter-bg.de
www.bocholter-bg.de

Andrea Unland, Tel. 02871 / 21765 – 691, aunland@l-i-a.de
Adolf Lang, Tel. 02871 / 31185, adilang@web.de

Institut für Gerontologie an der TU Dortmund
Evinger Platz 13
44339 Dortmund
Tel.: 0231 / 728488 – 0

www.ffg.tu-dortmund.de

Sarah Lüders, Dipl. Päd., Tel.: 0231/728488 – 13, sarah.lueders@uni-dortmund.de

Dr. Andrea Kuhlmann, Tel.: 0231/728488 – 29, andrea.kuhlmann@tu-dortmund.de

Letzte Aktualisierung: 21. April 2015

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