Dr. Ursula Köstler und Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt vom Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie vom Seminar für Genossenschaftswesen der Universität zu Köln forschen u.a. über die im sogenannten Dritten Sektor angesiedelten Gebilde der kooperativen Selbsthilfe. Zu Seniorengenossenschaften führten sie quantitative und qualitative Forschungen durch. In zahlreichen Interviews konnten sie interessante Einblicke in die in SG praktizierte Hilfe zur Selbsthilfe gewinnen und konnten zeigen, was Menschen bewegt, zusammen mit anderen etwas entstehen zu lassen. Gabi Klein vom Forum Seniorenarbeit NRW sprach mit ihr im Mai 2013.
Das breitangelegte Lehr- und Forschungsprogramm des Lehrstuhls für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie ist interdisziplinär: alle Bereiche der Sozialpolitik, insbesondere: Gesundheitspolitik, Dritter Sektor, Altersbilder, europäische Verbraucherpolitik und internationale Fragen der Sozialpolitik.
Auch am 1926 gegründeten Seminar für Genossenschaftswesen ist das Lehr- und Forschungsprogramm weitgefächert und umfasst neben betriebs- und volkswirtschaftlichen Perspektiven die sozialwissenschaftliche Sicht auf kooperatives Wirtschaften und genossenschaftliche Unternehmen. Dr. Köstler ist seit 2001 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung und am Seminar für Genossenschaftswesen tätig.
Frau Köstler, Sie forschen seit Jahren im Bereich der Seniorengenossenschaften. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Die Buntheit und Vielfalt dieser Initiativen der Hilfe auf Gegenseitigkeit, ihre Lebendigkeit. Hier engagieren sich Menschen mit anderen für andere, sie wollen etwas bewegen und haben Spaß daran. Die Menschen engagieren sich heute, sind bereit, zu geben, ohne direkt auf einen Rückfluss zu spekulieren. Wir nennen das Gabeüberschuss. Diese Bereitschaft der Engagierten zum Gabeüberschuss ist das stabilisierende Element dieser Initiativen.
Die ersten SG sind ja nun schon seit Anfang der 1990er Jahre tätig. Sie sind wichtige Partner im Gemeinwesen geworden, haben ihren Platz neben den vielen anderen Vereinen und Initiativen auf dem Sektor des bürgerschaftlichen Engagements gefunden. Bemerkenswert ist, dass die SG finanziell unabhängig sind, sich also selbst tragen. Die meisten Gemeinden stellen den SG einen Büroraum und einen Raum für Gemeinschaftsaktivitäten in einem Senioren-, Jugend- oder Generationenzentrum kostenlos oder für geringe Mietkosten zur Verfügung. Ansonsten arbeiten die SG ohne
finanzielle Bezuschussung seitens der öffentlichen Hand.
Wie definieren Sie den Begriff Seniorengenossenschaften?
Die Mitglieder einer Seniorengenossenschaft erbringen in aktiven Zeiten Leistungen, für die Zeitpunkte gutgeschrieben werden. Diese werden angespart und können dann im Bedarfsfall bei Krankheit oder Alter, wenn Hilfe nötig ist, eingelöst werden.
Angeboten werden Fahrdienste, Besuchsdienste, kleine Handwerksdienste, etc.; Doch bei allen steht immer das menschliche Miteinander im Vordergrund. Beim Fahrdienst zum Arzt geht es darum, zu begleiten, da wartet dann jemand mit einem, man ist nicht alleine und Gespräche entstehen. Dann gibt es zahlreiche Angebote der Gesellung: Walkingruppen, Tanz- und Gymnastikgruppen, Wander- und Ausflugsgruppen, Museumsbesuchsgruppen. Einige Initiativen arbeiten auch generationenübergreifend, so werden Hausaufgabenbetreuung und Kinderbetreuung angeboten.
In SG wird also das genossenschaftliche Prinzip der Hilfe auf Gegenseitigkeit und Hilfe zu Selbsthilfe praktiziert. Die Initiativen sind allerdings in der Vereinsform, also als e. V. tätig, nicht in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft. Wir definieren hier den Genossenschaftsbegriff soziologisch. Nur einige wenige Initiativen nennen sich SG, die anderen haben Namen wie Nachbarschaftshilfe, Seniorenhilfe, Bürgerhilfe, Bürgertreff, Verein für soziales Engagement, aber auch Hand in Hand oder Aktiv-Bürger etc.
Die Seniorengenossenschaften funktionieren auf einer großen Vertrauensbasis: Ich engagiere mich heute für Menschen in Notlagen, dies wird mir in Form von Zeitpunkten auf einem Konto gutgeschrieben. Wenn ich selber Hilfe benötige, kann ich diese über mein Zeitkonto „einkaufen“. Allerdings habe ich keine Garantie, dass zum Zeitpunkt meiner Hilfebedürftigkeit die Genossenschaft überhaupt noch existiert bzw. dass es genügend fitten Nachwuchs gibt, der sich engagiert. Warum funktioniert das System trotzdem?
Ja, das haben wir uns auch gefragt. Wir haben eine quantitative Mitgliederbefragung durchgeführt. Da haben wir gefragt: Bietet Ihnen die Initiative eine Garantie für die Einlösung der Zeitpunkte? Und zwei Drittel antworteten mit Ja. Dies ist erstaunlich, denn Sie haben es angesprochen, es gibt keine Garantie, dass der Verein in zehn, zwanzig Jahren noch existiert und wenn, ob er genug aktive Mitglieder hat.
Die Lösung ist: Vertrauen. Die Mitglieder haben personengebundenes Vertrauen in die aktiven Mitglieder, vornehmlich in die des Vorstands. Das dann auch in ein Systemvertrauen, in das Funktionieren des Systems SG übergeht. Wir wissen, Vertrauen ist ein grundlegendes Element für zwischenmenschliches kooperatives Verhalten. Wir können ja nicht für alles Verträge schließen.
Sie haben viele Interviews mit Initiator/-innen und Mitglieder von Seniorengenossenschaften geführt. Was motiviert diese Menschen, sich für die Idee der Seniorengenossenschaften einzusetzen?
Die Motive für ein Engagement in SG sind so vielfältig wie die Menschen, die sich dort einbringen. Die Menschen wollen mit anderen zusammen etwas für sich und andere gestalten. Sie wollen helfen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen. Vor allem muss es Sinn machen, aber es muss auch Spaß machen. Wir wissen aus der Engagementforschung, die Menschen sind keine reinen Altruisten. Sie möchten anderen etwas geben, aber auch etwas für sich selbst mitnehmen. Und das ist gut so.
Konnten Sie über die Dauer der Mitgliedschaft einen Wandel in der Motivation erkennen?
Wir unterteilen gerne in extrinsische und intrinsische Motive.
Bei einer extrinsischen Motivation, ist es ein externer Anreiz, der den Anstoß zur Aufnahme des Engagements gibt. Die Tätigkeit ist dann Mittel zur Verfolgung anderer Ziele. Während eine intrinsische Motivation ein Ich Motiv ist. Der Engagierte findet die Befriedigung in der Tätigkeit selbst.
Einige befragte Mitglieder haben uns berichtet, dass sie zu Beginn eher auf die Gutschriften der Zeitpunkte geachtet haben. Sie sind demnach mit extrinsischer Motivation an die Sache rangegangen. Es war ihnen wichtig, für ihren Einsatz mit den Punkten sozusagen entlohnt zu werden. Sie sahen die Punkte als Investition in die Zukunft für Zeiten, in den sie selbst mal Hilfe brauchen.
Doch über die Jahre der Mitgliedschaft ist dann das Punktesammeln nicht mehr vorrangig. Es folgt eine Verlagerung hin zu intrinsischen Motiven. Das Engagement im Verein macht Spaß, die Geselligkeitserlebnisse überwiegen, sodass die Gegenleistung in Form von Punkten in den Hintergrund tritt. Es gibt sogar Initiativen, die die Zeitkonten-Dokumentation nach Jahren eingestellt haben. Hier vertrauen die aktiven Mitglieder, dass ihnen später im Bedarfsfall geholfen wird.
Wir beobachten also einen Motivwandel über den Zeitraum der Mitgliedschaft von extrinsischen zu intrinsischen Motivbündeln.
Bei einigen Genossenschaften können sich die „Gebenden“ inzwischen entscheiden, ob sie für ihre Dienstleistung Punkte auf ihr Zeitkonto gutgeschrieben oder lieber einen finanziellen Ausgleich bekommen möchten. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Weiterentwicklungs- und Wandlungsprozesse sind ganz natürlich bei Sozialgebilden. Es sind ja die Menschen, die mit ihrem Engagement und Ideen die Initiativen mit Leben füllen.
Wenn sich die Mitglieder für ihr Engagement zwischen einer Punktgutschrift und der Auszahlung eines Geldbetrages entscheiden können, hat das Einfluss auf die Engagementmotive und somit auch mittelfristig auf die Zusammensetzung der Mitgliederschaft. Es macht einen Unterschied, ob sich jemand für andere engagiert und dies gabeorientiert macht; also er bekommt zwar Punkte, diese werden aber in ferner Zukunft einlöst, oft aber auch nie.
Oder er bekommt eine Gegenleistung in Form von Geld, dann ist das eine Bezahlung. In der Seniorengenossenschaft Riedlingen bspw. kann der Helfer wählen zwischen Punkten oder einer Zahlung von 6,80 Euro pro geleistet Stunde. Dies ist eine Weiterentwicklung, die meines Erachtens von der Grundidee eine SG wegführt und auch nicht mehr unter den von uns gefassten Begriff SG fällt, denn hier entstehen marktähnliche Strukturen.
Was zeichnet Seniorengenossenschaften neben den unentgeltlich oder nur für einen symbolischen Betrag erbrachten Leistungen gegenüber dem regulären Markt aus?
Den Markttausch charakterisiert eine ausgeglichene Reziprozität. Leistung und Gegenleistung erfolgen zeitgleich, bei Verträgen kann auch eine Zeitspanne dazwischen liegen. Dann sollte auch der Wert des Ausgetauschten gleich sein.
Natürlich sind wir hier auch wieder bei den Motiven der beteiligten Tauschpartner. Es macht einen Unterschied in der Art des Gebens, ob man eine Leistung verkauft oder freiwillig etwas gibt. Auch für den Empfänger der Leistung ist es ein Unterschied. Beim Markttausch entsteht keine Beziehung zwischen den Teilnehmenden, beim Geben und Annehmen einer freiwilligen, ehrenamtlichen Leistung entsteht dagegen eine Beziehung.
Bei unserer Recherche hatten wir den Eindruck, dass sich hinter dem Begriff Seniorengenossenschaft selten die rechtliche Form der eingetragenen Genossenschaft verbirgt, sondern eher die Vereinsform gewählt wird. Wie erklären Sie sich das?
Ja, als Rechtsform wählen die Initiativen den e.V. Der eingetragene Verein ist eine bekannte Rechtsform. Die Menschen kennen sie aus anderen Engagementbereichen, in Sportvereinen, Fördervereinen. Und insofern liegt es nahe, eine Rechtsform zu wählen, die man kennt und mit der man Erfahrungen hat. Der e.V. hat den Vorteil des Gemeinnützigkeitsstatus, Spenden sind absetzbar.
Dann spielt unter Umständen der in den Köpfen der Menschen verankerte Begriff Genossenschaft eine Rolle. Wir haben in unseren Interviews danach gefragt, der Tenor war: Genossenschaft ist etwas nicht klar Fassbares, fast etwas Verstaubtes wohnt dem Begriff inne; der Raiffeisenteller, der in der Kindheit im Esszimmer hing, kam den Befragten in den Sinn.
2006 trat eine Novellierung des Genossenschaftsgesetzes in Kraft, die Genossenschaftsgründungen erheblich erleichtern soll und Vereinfachungen für kleinere Genossenschaften bringt. Unter anderem besagte es, dass künftig drei statt sieben Gründungsmitglieder ausreichen und der Zweck einer Genossenschaft sich auch auf kulturelle und soziale Zwecke ausdehnen kann. Hat die Novellierung ihr Ziel, einfacherer und entsprechend vermehrte Gründungen von Genossenschaften, erreicht?
Für den Bereich der SG können wir das nicht sagen. Die Initiativen der Hilfe auf Gegenseitigkeit, die wir unter SG fassen, sind nach wie vor als e.V. konstituiert. Es gab auch meines Wissens keine Umwandlung von der Rechtform e.V. in eine eG; obwohl einige Initiativen dies in ihren Vereinssatzungen als zukünftiges Ziel verankert haben. Hier spielen wohl Gewohnheitsaspekte eine Rolle: Es klappt gut in der Rechtsform des e.V., die Gemeinnützigkeitsprüfungen machen keine Probleme. Warum dann die Rechtform wechseln? Auch bei Neugründungen von SG nach der Novellierung des Genossenschaftsgesetzes wird der e.V. gewählt. Die Gründung einer SG ist ein Prozess, der über Monate vor sich geht. In der Regel orientieren sich die Gründungsmitglieder an existierenden vergleichbaren Initiativen und die haben nun mal den e.V. gewählt.
Frau Köstler, welche Voraussetzungen halten Sie für notwendig, damit sich die Idee der Seniorengenossenschaft weiter verbreitet?
Als erstes braucht es Menschen, die von der Idee der SG überzeugt sind. Meist ist das eine Gruppe von Gründungsmitgliedern, die nahezu infiziert sind, diese Idee der Hilfe auf Gegenseitigkeit umzusetzen. Oft sind das charismatische Persönlichkeiten, die sich im Vereinsleben und in den Vernetzungsstrukturen der Gemeinde auskennen.
Ist der Verein dann gegründet, muss er mit Leben gefüllt werden, regional bekannt gemacht werden und aktive Mitglieder gewinnen. Etabliert hat sich der Verein, wenn er sich in die gegebenen Gemeindestrukturen einpasst, seinen Platz findet. Wichtig ist, dass die SG sich vernetzt mit anderenAnbietern, mit den Sozialstationen vor Ort, mit den Ämtern, dem Senioren- oder Ehrenamtsbeauftragten der Stadt etc und mit diesen aktiv zusammenarbeitet.
Dazu sind natürlich die Rahmenbedingungen vor Ort wichtig: In der Gemeinde sollte eine Anerkennungskultur für Freiwilliges Engagement existieren, der Zugang zum Status der Gemeinnützigkeit muss leicht sein, lokale Medien und Einrichtungen sollten über die SG informieren, Angebote der Fort- und Weiterbildung der Mitglieder sollten kommunal unterstützt werden etc. Das Stichwort heißt hier: Aktive Einbindung der SG in die kommunale Infrastruktur.
Frau Köstler, wir danken Ihnen für das Gespräch
Zur Person:
Dr.rer. pol. Ursula Köstler, Volkswirtin, ist seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung und am Seminar für Genossenschaftswesen. Sie hat zahlreiche Forschungsprojekte zu Gebilden des Dritten Sektors durchgeführt. Dort gilt ihr Interesse den Reziprozitätsstrukturen und den Motiven der Engagierten.
Kontakt:
Universität zu Köln
Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie
Seminar für Genossenschaftswesen
Albertus-Magnus-Platz
50923 Köln
ursula.koestler@uni-koeln.de
Foto: Timothy Vogel – CC BY-NC 2.0
Letzte Aktualisierung: 21. April 2015