Interview mit Dr. Albert Noll, ehrenamtliche Durchführung einer Umfrage in Dinslaken zum Thema Einsamkeitsgefährdung im Alter.
Forum Seniorenarbeit: Lieber Herr Noll, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein kleines Interview im Rahmen unseres Themenmonats nehmen. Einige unserer Leser:innen werden Sie vermutlich nicht kennen. Könnten Sie sich bitte zu Beginn einmal vorstellen?
Albert Noll: Ich bin 75 Jahre alt und ehemaliger Lehrer / Schulleiter einer Haupt- und Grundschule. Nach meiner Zeit als Schulrat in Duisburg und Dezernent und Hauptdezernent der Bezirksregierung Düsseldorf, Abteilung Schule bin ich seit 2015 Pensionär.
Forum Seniorenarbeit: Sie haben in Ihrem Leben bereits einige Umfragen durchgeführt. Können Sie uns einige Beispiele nennen?
Albert Noll:
- Befragung von über 1000 Schülerinnen und Schülern sowie 60 Lehrerinnen und Lehrer in NRW
- Gewalt im Fußball: Befragung von Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern – Niederrheinischer und Westfälischer Fußballverband
- Befragung von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern sowie Seniormentorinnen und Seniormentoren / Grundschulen NRW zur Maßnahme Senior-Mentoring im Pädagogischen Seiteneinstieg Grundschule
- Empirische Befragung 80 älterer Menschen (>70 Jahre) in Dinslaken und Umgebung zum Alter – Einsamkeitsgefährdung im Alter
Forum Seniorenarbeit: In Ihrer aktuellen Umfrage befassen Sie sich mit dem Thema Einsamkeit im Alter. Woher stammt die Idee für dieses Thema?
Albert Noll: Sowohl ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Nachbarn als auch Familienmitglieder leben zwischenzeitlich allein (Partner/ Partnerinnen verstorben) zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen. Durch viele Gespräche/ Interviews zur persönlichen Situation bin ich auf Einsamkeitsgefährdung älterer Menschen aufmerksam geworden und habe dann die empirische Untersuchung gestartet. Neben diesen persönlichen Erfahrungen hat auch die Politik des Landes NRW deutlich gemacht, dass Einsamkeit ein bedeutendes gesellschaftliches Thema ist.
Forum Seniorenarbeit: Wir haben ja bereits dargestellt, dass Sie die Umfrage ehrenamtlich durchgeführt haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Albert Noll: Nach der Idee der Befragung konnte ich die Caritas Dinslaken als Kooperationspartner gewinnen. Anschließend erstellte ich den Fragebogen mit einem geeigneten Statistikprogramm eines ehemaligen Kollegen der Bezirksregierung Düsseldorf. Daraufhin führte ich die Befragung auch in Pflegeeinrichtungen der Caritas durch und wertete die Ergebnisse mit Hilfe des o.g. Statistikprogramms aus. Die Ergebnisse der Befragung habe ich an die teilnehmenden Pflegeeinrichtungen versendet und stelle sie bei offiziellen Anlässen / Gesprächen auch mit Politikern dar.
Forum Seniorenarbeit: Was sind die zentralen Ergebnisse aus Ihrer Umfrage?
Albert Noll: Einsamkeit ist ein Leiden des Individuums an der sozialen Umwelt. Damit wird deutlich, dass Einsamkeit sowohl einen emotionalen als auch einen sozialen Aspekt beinhaltet. Einsamkeit ist letztendlich ein subjektives Gefühl. Insofern stellte ich mir mit der empirischen Untersuchung die Frage, ob es und wenn ja, welche Indikatoren für eine „Einsamkeitsgefährdung“ gibt. Ich habe drei Indikatoren identifiziert:
- Mobilität
- Soziale Kontakte
- Digitalisierung
Konkret: Die Einsamkeitsgefährdung ist groß, wenn die Mobilität stark eingeschränkt (also niedrig) ist, keine/oder nur noch wenige soziale Kontakte da (also niedrig) sind und wenn der Grad der Digitalisierung niedrig ist.
Die Einsamkeitsgefährdung ist klein, wenn die Mobilität hoch ist, also viele soziale Kontakte existieren und die Digitalisierung hoch ist.
Kernaussage: Ältere Menschen leiden vermehrt unter Einsamkeit/ sind vermehrt Einsamkeit gefährdet in direkter Abhängigkeit von den Variablen „Soziale Kontakte, Mobilität, Digitalisierung“.
Die Einsamkeitsgefährdung lässt sich anhand der 3 Indikatoren in einem dreidimensionalen Koordinatensystem verdeutlichen. Ob es tatsächlich zu Einsamkeit kommt, hängt vom subjektiven Gefühl des Individuums ab.
Forum Seniorenarbeit: Sie beschreiben Digitalisierung als eine von drei Dimensionen im Kontext der Einsamkeitsgefährdung. Wie kann Digitalisierung Ihrer Meinung nach Menschen helfen, die sich einsam fühlen oder von Einsamkeit bedroht sind?
Albert Noll: Dazu möchte ich zunächst ein Beispiel nennen: Eine ältere 90-jährige wohlhabende Dame mit Parkinson-Anzeichen und stark eingeschränktem Sehen stürzt und wird an den Folgen des Sturzes operiert. Sie behält ihre Wohnung, geht jedoch in eine Pflegeeinrichtung. Sie nimmt immer weniger am täglichen Leben teil. Fernsehen ist ihr kaum möglich. Ihr Sohn kauft eine Alexa. Sie benutzt dieses Medium intensiv, fragt nach Wetter, was sie als nächstes tun soll, lässt sich über Nachrichten informieren, fragt nach Musik, … und lebt auf, schöpft neuen Lebensmut. In der Zwischenzeit kann sie im Rollstuhl in ihrem umgebauten Auto mit ihrem Sohn am Steuer die Umgebung erfahren.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union formuliert Artikel 11 Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit und Artikel 25 Rechte älterer Menschen.
Nun hat meine Befragung u.a. gezeigt: 40 % der zu Hause Wohnenden haben keine Erfahrung mit dem Internet; bei den Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohnern steigt der Prozentsatz sogar auf nahezu 90 %.
All diese Menschen sind von der Meinungsfreiheit – wie sie der Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union formuliert – weitgehend ausgeschlossen. Sie sind massiv benachteiligt, eines ihrer Grundrechte beraubt. Ziel muss es sein, dass alle Menschen kompetent, aufgeklärt und aktiv an der Medienöffentlichkeit teilnehmen können, wie dies Mitarbeiter der Onlineplattform ZEBRA formulieren.
Bzgl. der Handy-/Smartphone Erfahrung sehen die Erfahrungswerte besser aus: 90 % der zu Hause Wohnenden geben an, diesbezügliche Erfahrung zu haben; bei den Pflegeheimbewohnerinnen und Bewohnern liegt der Prozentsatz allerdings nur bei 50 %.
Digitale Medien sind das Tor zur Welt und eröffnen Menschen jeden Alters Antworten zu fast allen Fragen. Digitale Medien können dazu beitragen, trotz mancher Behinderung am Leben weiter teilzunehmen. Über digitale Medien können ferner soziale Kontakte auch bei mancher Behinderung aufrechterhalten werden (zu weit entfernten Familienangehörigen, Freunden/Freundinnen, ehemalige Kolleginnen/Kollegen…).
Forum Seniorenarbeit: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie?
Albert Noll: Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Problem, Verhinderung von Einsamkeit ein gesellschaftlicher Auftrag. Einsamkeit kann jeden treffen: jeden Alters. In meiner Studie geht es um Einsamkeit / Einsamkeitsgefährdung älterer Menschen. Und jeder/jede kann helfen, indem sie/er hinschaut, was mit der Nachbarin/dem Nachbarn, dem ehemaligen Kollegen/der ehemaligen Kollegin, der Freundin/dem Freund aktuell geschieht. Dazu dienen die drei von mir identifizierten Indikatoren (Soziale Kontakte, Mobilität, Digitalisierung).
Konkret: Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag hinzuschauen und ggf. nachzufragen – hat sich bzw. wie hat sich die Person bezüglich der drei Indikatoren verändert? Es stellt sich die Frage: Wie kann ich nachfragen und wen kann ich ansprechen?
Resümee: Neben dem Bauchgefühl die drei Indikatoren zur Beobachtung nutzen und Menschen gleichen Alters bzgl. Einsamkeit / Einsamkeitsgefärdung mit dieser Brille betrachten.
Forum Seniorenarbeit: Wir danken Ihnen für die interessanten Einblicke in Ihre spannende Arbeit. Wie geht es nun weiter?
Albert Noll: Geplant ist, meine Ergebnisse im Rahmen einiger Besprechungen / Tagungen vorzustellen (KAB, Caritasratssitzung, Kirchengemeinden, Träger von Pflegeeinrichtungen…). Zeitnah wird es eine Fachtagung „Digitalisierung in Pflegeheimen“ geben, die ich initiiert habe. Ich möchte mit den Ergebnissen meiner empirischen Erhebung und mit Vorträgen bei Trägern von Pflegeeinrichtungen dazu beitragen, dass sich Pflegeeinrichtungen öffnen, zu gesellschaftlichen Zentren werden, und dass Pflegeeinrichtungen Mitmach-Einrichtungen werden (Bsp. Kaiserstuhl…). Ich möchte mit meiner Befragung von älteren Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, im Vergleich zu älteren Menschen, die zu Hause wohnen, dazu beitragen, dass im Rahmen der Einsamkeitsdiskussion die älteren Menschen in Pflegeeinrichtungen nicht vergessen werden. Außerdem möchte ich das Thema „Digitalisierung für ältere Menschen“ durch meine Ergebnisse aus der Negativdiskussion / Verhinderungsdiskussion führen. Natürlich ist jeder menschliche persönliche Kontakt vom Grundsatz her besser, aber was ist, wenn der nicht mehr funktioniert?
Und zum Schluss: Aus meiner Sicht besteht die gesellschaftliche bzw. auch die individuelle Aufgabe eines jeden darin, die Augen und das Herz für den anderen zu öffnen und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Bezüglich Einsamkeit habe ich Beobachtungs-Indikatoren identifiziert. Als Frage/Auftrag schließt sich an: Wir haben in NRW eine Vielzahl unterschiedlicher psychosozialer Angebote für Menschen in unterschiedlichen Notlagen. Wie schaffen wir es, die vielen und oft guten Angebote, die bereits existieren, zu den betroffenen Menschen zu bringen?!
Ich danke für das konstruktive und zur Reflexion anregende Interview.
Kontakt
Mail: albert.noll@gmx.de
Telefon: 015737918133