Ein wichtiges Thema im Rahmen des Arbeitschwerpunkts Digitale Ideen für Sozialraum und Nachbarschaft des Forum Seniorenarbeit NRW, sind die digitalen Chancen für ältere Menschen. Zu diesem Thema hat Christine Freymuth, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forum Seniorenarbeit NRW, ein Interview mit Dr. Michael Doh, Experte im Bereich ältere Menschen und Digitalisierung, geführt.
Dr. Michael Doh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Psychische Alternsforschung am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Seit fast 30 Jahren forscht und lehrt Michael Doh im Bereich der Gerontologie. Forschungsschwerpunkte sind u.a. der Umgang mit Medien im Alter und Digitales und Lernen im Alter, zu denen er regelmäßig publiziert. Er ist in unterschiedlichen Forschungsprojekten tätig, wie dem Projekt „Kommunikation mit intelligenter Technik (KommmiT)“, welches die Stärkung der Teilhabe und der Medienkompetenzen von älteren Menschen als Ziel hat. In der Vergangenheit wurden seine Arbeit und sein Engagement u.a. durch die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) und die Robert Bosch Stiftung ausgezeichnet.
Im Bereich ältere Menschen und Digitalisierung zählt Dr. Michael Doh zu den Experten und wirkt auch in entsprechenden Beiräten und Arbeitsgruppen der Forschung und Politik mit.
Christine Freymuth: Ein wichtiges Thema im Rahmen unseres Themenschwerpunkts Digitale Ideen für Sozialraum und Nachbarschaft stellen digitale Chancen für ältere Menschen dar. Als Einstieg in dieses Interview daher die Frage an dich – Wo siehst du die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung für ältere Menschen? Welche sind das?
Dr. Michael Doh: Ich will die Frage gern auf den älteren Menschen im Sozialraum beziehen: Hier bietet die Digitalisierung neue Zugänge zur sozialen Teilhabe, zur bürgerschaftlichen Partizipation, zum digitalen Ehrenamt oder auch zur Nachbarschaftshilfe. Angelehnt an den 7. Altenbericht von 2016, als es um die Sorge und Mitverantwortung in der Kommune ging, sehe ich die Kommune hier in der Pflicht, eine digitale Daseinsvorsorge für die Bürgerschaft zu garantieren. D.h. auch für ältere Menschen, die bislang keinen Zugang zur digitalen Welt haben, niedrigschwellige Zugangs- und Lernangebote zu schaffen, z.B. durch freies WLAN in allen Senioreneinrichtungen.
Christine Freymuth: Wo siehst du aus deiner langjährigen Erfahrung heraus und eurem Projekt Kommmit besondere Herausforderungen?
Dr. Michael Doh: Nun, innovative Projekte stehen fast immer vor zwei besonderen Herausforderungen. Zum einen die Erreichung der anvisierten Zielgruppen, in unserem Fall in Stuttgart sind es ältere Personen im Bereich des digitalen Ehrenamts, die als technikerfahrene Lernbegleiter fungieren. Zum anderen ältere technikunerfahrene Personen, und dabei speziell hochaltrige alleinlebende Personen und ältere türkische Migrant*innen. Und obwohl schon gute kommunale und ehrenamtliche Strukturen und Netzwerke bestanden, dauerte es doch fast zwei Jahre bis wir mit der Umsetzung des Projekts in den Sozialräumen loslegen konnten. Nach drei Jahren haben wir 300 aktive Teilnehmer*innen im Projekt und das Interesse in der älteren Bürgerschaft hält weiter an. Die zweite Herausforderung solcher „Digitaler Nachbarschaften“ ist die Verstetigung und Nachhaltigkeit. Wie können selbst gut laufende Projekte nach der Förderphase am Leben gehalten werden. Denn oftmals hängen solche Projekte an einzelnen sehr engagierten Personen oder Amtspersonen – und wenn die wegbrechen, wird die Luft dünn. In KommmiT haben wir das Glück, dass die Stadt Stuttgart den Mehrwert des Projekts für die ältere Bevölkerung erkannt hat und das Servicebüro mit Personal langfristig weiter finanzieren wird. Zudem laufen derzeit auf Landes- und Bundesebene mehrere Anträge auf Nachfolgeprojekte.
Christine Freymuth: Warum ist das Thema Zugänge eröffnen, im Sinne von Zugang zu Bildung, zu Internet und zu Hardware ein Thema für ältere Menschen oder Organisationen, die mit älteren Menschen arbeiten?
Dr. Michael Doh: Digitalisierung und die digitale Transformation betreffen alle Lebensbereiche und alle Generationen. Es ist allein vom demokratischen Grundverständnis Pflicht und Recht ALLE Bürger*innen mitzunehmen und niemanden auszugrenzen. Aber leider hinkt Deutschland da noch in Bezug auf das Alter und besonders in Bezug auf Hochaltrigkeit im europäischen Vergleich stark hinterher: Während in Island und Dänemark nahezu alle Personen zwischen 65 und 74 Jahren das Internet nutzen, sind es in Deutschland um die 70%. Und von den Personen ab 80 Jahren gehört erst jeder Vierte zu den Onlinern.
Christine Freymuth: Welche Lehr- und Lernformate hältst du für besonders attraktiv bzw. zielführend?
Dr. Michael Doh: Im Alter nimmt das informelle Lernen eine zunehmend größere Rolle ein. Daher sollten noch viel mehr informelle Lernumgebungen geschaffen werden – zuvorderst bei den bekannten Bildungsträgern wie Volkshochschulen, Stadtbibliotheken und Computerclubs: Internet- und App-Cafés, Sprechstunden, selbstorganisierte Lerngruppen. Dies würde zu einer Stärkung der Bildungskette von informellen, non-formalen und formalen Lern- und Bildungsangebote führen. Aber auch all die klassischen Begegnungsräume älterer Menschen wie Seniorenzentren, Kirchen, Mehrgenerationenhäuser und Vereine könnten und sollten ihren Funktionsbereich als niedrigschwellige Lernorte zur digitalen Welt ausweiten.
Christine Freymuth: Die meisten Projekte, in denen ältere und hochaltrige Menschen an digitale Themen herangeführt werden, setzen auf ehrenamtliche Personen, die eine gewisse Technikaffinität haben und versuchen diese zu Partner*innen/Gestalter*innen sozialer Anliegen zu machen. Wäre es nicht vielversprechender, Organisationen anzusprechen, die bereits einen Zugang zu älteren, ggf. von Einsamkeit bedrohten älteren Menschen haben, wie zum Beispiel aufsuchende Dienste?
Dr. Michael Doh: Am effektivsten könnte es sein, wenn sich hauptamtliche und ehrenamtliche Gruppierungen zusammenfinden. Soziale Einrichtungen und Organisationen könnten gut bei der Zielgruppenansprache wirken, während ehrenamtliche Senior*innen als informelle Lernbegleiter*innen fungieren. Durch ihre Altersähnlichkeit können Sie speziell für ältere technikunerfahrene und technikdistante Menschen als Rollenvorbild und als Türöffner in die digitale Welt dienen. Solche Zielgruppen weisen eine vergleichsweise geringe Selbstwirksamkeit in Bezug auf digitale Technologien auf. Daher ist eine Identifikation mit dem Lehrenden, Coach oder Lernbegleitenden hilfreich für die Lernmotivation. Ganz im Sinne, „was die mit 70 Jahren kann, das kann ich mit meinen 75 Jahren vielleicht auch noch erlernen“. Von Vorteil können speziell für hochaltrige und technikdistante Frauen nicht nur alters- sondern auch gleichgeschlechtliche Lernbegleiterinnen sein.
Christine Freymuth: Also bereits bestehende Strukturen als Türöffner nutzen, um die schwer Erreichbaren zu erreichen? Was könnten das für Organisationen sein?
Dr. Michael Doh: „Man muss die Leute dort abholen, wo sie sind“, ist das Credo einer zugehenden Bildungs- und Sozialarbeit. Das sind zum einen wie schon oben erwähnt die klassischen Begegnungsräume älterer Menschen. Aber da gehen zumeist nur die aufgeschlossenen und geselligen Charaktere hin. Schwieriger wird es, die sozial ausgegrenzten und einsamen älteren Menschen zu erreichen. Und da kommt dann der Sozial- und Gesundheitssektor als Türöffner zum Tragen. Also Sozialdienste, Pflegestützpunkte, Einrichtungen der Altenhilfe, aber auch Krankenkassen, Apotheken, Krankenhäuser und der Hausarzt könnten einen digitalen Zugang ermöglichen: nämlich über den Faktor Gesundheit, sei es zur Prävention, Rehabilitation und Intervention, sei es durch neue Formate wie der Telemedizin oder dem E-Coaching.
Christine Freymuth: Digitalisierung und ältere Menschen – wann kommt das Happy End? Wie sieht dein Fazit unter Berücksichtigung der Entwicklungen der letzten Jahre aus? Was gab es und was braucht es? Was könnte Politik tun?
Dr. Michael Doh: Dafür reicht der Platz nicht aus… Ich durfte für den 8. Altenbericht eine Expertise verfassen und dabei auch den Finger in die Wunden legen. Meines Erachtens verschlafen wir nicht nur gesamtgesellschaftlich die digitale Transformation, indem immer noch zu viel debattiert als gestaltet wird. Sei es die unzulängliche technische Zugänglichkeit besonders in infrastrukturschwachen Gegenden mit dem Ausbau von 5G, Breitband und freien WLAN an öffentlichen Einrichtungen und Begegnungsräumen – und speziell auch in Senioreneinrichtungen wie Seniorenzentren und allen Wohnformen der Altenhilfe. Es fehlen auf kommunaler Ebene noch vielerorts Strukturen und bürgerschaftliche Netzwerke zur Digitalisierung, um zum einen digitale Zugänge und Bildungsangebote auszubauen, und zum anderen digitale Formate der Bürgerbeteiligung und Nachbarschaftshilfe voranzubringen (z.B. durch Bürger/Quartier-Apps).
Christine Freymuth: Zum Schluss wäre es schön, wenn du unseren Leser*innen noch drei – in deinen Augen sehr gelungene – Projekte zum Thema Digitalisierung und ältere Menschen nennst.
Dr. Michael Doh: Ganz ehrlich? Es gibt so viele Projekte und Programme, die man gar nicht mehr alle überblicken kann – was auch daran liegt, dass wir hier eine Kultur der „Projektitis“ haben; d.h. es werden immerzu neue Modellprojekte und Förderprogramme aufgelegt, ohne dass Nachhaltigkeit, Transfer und Skalierbarkeit gewährleistet wird. Daher wertschätze ich besonders Projekte und Organisationen, die sich seit Jahren halten und stetig weiterentwickeln, wie z.B. „Unser-Quartier.de“ oder das „Netzwerk der Senioren-Internet-Initiativen Baden-Württemberg“. Im Bereich „digitaler Nachbarschaften“ verfolge ich mit großem Interesse „Mein Dorf 55+“ aus dem Nassauer Land und das QuartiersNETZ aus Gelsenkirchen. Aber man sollte auch unser „KommmiT“-Projekt aus Stuttgart im Auge behalten…
Christine Freymuth: Michael, vielen Dank für das Interview! Wir werden weiterhin gespannt deiner Arbeit und deinen Forschungsvorhaben folgen!
Links:
Verbundprojekt „Kommunikation mit intelligenter Technik“ (KommmiT)
Psychologisches Institut der Uni Heidelberg
Letzte Aktualisierung: 20. August 2019