Heimatlieder vergisst man nicht.

Workshop 02:Heimatlieder vergisst man nicht. Können Lieder Identitätsbildung fördern oder behindern?

Die Zeiten der Globalisierung, in denen wir „Weltbürger“ grenzenlos reisen, arbeiten und leben können, kollidieren mit unseren Wünschen nach Geborgenheit, Stabilität und Identifikation mit dem Wohnumfeld. Wie lässt sich also die Frage beantworten, wo wir hingehören oder was unsere Heimat ist?

Anhand traditioneller und neuer „Heimatlieder“ haben wir uns der Beantwortung dieser Fragen genähert. Dabei wurde jedoch kein romantisches, verklärtes „Heile-Welt“-Bild von Heimat gezeichnet, sondern kritisch hinterfragt, welche Faktoren unsere Identität ausmachen und welche Bedeutung diese in der Quartiersarbeit mit Senior_innen haben.

Zum Einstieg in die Thematik wurde das Lied „Auf der Lüneburger Heide“ unter Gitarrenbegleitung als Beispiel für ein traditionelles Heimatlied gesungen. Nahezu alle Teilnehmenden des Workshops sangen gerne und hatten teilweise schon Erfahrungen in der Arbeit mit Volksliedern, insbesondere in der Arbeit mit demenziell Erkrankten. Dennoch wurden von eigenen Teilnehmern auch Vorbehalte gegenüber Heimatliedern geäußert. Einem traditionellen Heimatlied wurden folgende Eigenschaften zugeschrieben und war an folgende Erwartungen geknüpft:

Zugeschriebene Eigenschaften

Geknüpfte Erwartungen

  • sentimental & emotionsbetont
  • Beschreibung von Natur oder Landschaft
  • Beschreibung einer Idylle
  • Bezug zur Natur
  • „Lob“ und Verbundenheit mit einem Ort
  • geeignet für einen Chor
  • Heimatgefühl, „Herzensöffner“
  • Traurige Stimmung, Abschied, Sehnsucht
  • eingängige Musik / Melodie
  • Vermittlung eines Sicherheitsgefühls („heile Welt“)
  • langlebig, zeitlos
  • Dialekt
  • Ÿtiefe Gefühle ansprechen
  • Ÿein „Regionalgefühl“ wiedergeben
  • ŸZugehörigkeit zu einer Stadt, Region, Landsmannschaft bestätigen
  • ŸErinnerungen wecken

 

 

Folgende Lieder wurden dabei als Heimatlieder verstanden und eingebracht:

  • Kein schöner Land
  • Glückauf, der Steiger kommt
  • Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
  • An der Saale hellem Strande
  • Ännchen von Tharau
  • Land der dunklen Wälder (Ostpreußenlied)
  • Pommernlied
  • Riesengebirgslied

Nach dem Versuch allgemeingültige Eigenschaften und Erwartungen für traditionelle Heimatlieder zu identifizieren, wurden durch verschiedene Impulse die Vielseitigkeit und teilweise Beliebigkeit von Heimatliedern kritisch aufgezeigt.

1. Impuls: „Musterstadtlied“

Das Musterstadt-Lied

  1. Wir sitzen hier im trauten Kreis bei frohem Becherklang,das Herz ist uns so voll und heiß, strömt über im Gesang.So töne denn ein helles Lied aus unserer warmen BrustUnd künde, was so mächtig zieht, was uns durchglüht mit Lust.

  2. Es lebe hoch das Vaterland, wo deutsche Zunge klingt:Und hält der Sprache mächtig Band, die tief ins Herz uns dringt.Es lebe hoch Borussia, des Vaterlandes Mark!In Helm und Panzer steht sie da, so blühend und so stark.

  3. Noch einmal, Freunde, stoßet an, es klinge stark und weit!Ein freudig „Hoch“ von Mann zu Mann und unser Musterstadt!Du Heimat auf des Berges Höh’n, wir halten dich so wert,und auf dein Glück und auf dein Wohlergeh’n sei dieses Glas geleert.

Aus einem ortsbezogenen Heimatlied wurde der Ortsname entfernt und die Teilnehmenden gebeten, aus dem Textinhalt den Ort zu erschließen. Das gelang erwartungsgemäß nicht. Ziel dieser Übung war die Veranschaulichung der Beliebigkeit und Austauschbarkeit vieler Heimatlieder. Die „Musterstadt“ hieß im übrigen Lüdenscheid!

2. Impuls: Diskussion Hymne // Heimatlied

Zwischen einer Hymne und einem Heimatlied ist zu differenzieren. Eine Hymne hat einen offiziellen Charakter und ist häufig explizit in Auftrag gegeben. Ein Heimatlied ist informell. Jeder kann ein Heimatlied schreiben (Ausnahmen: Bayernlied und Sachsenlied; diese haben offiziellen Charakter).

Zur Veranschaulichung des Problems – das dabei entstehen kann – wurde die deutsche Nationalhymne, als bekanntestes deutsches Heimatlied herangezogen. Diese wird jedoch nur auf die dritte Strophe beschränkt. Die 1. Strophe (Hoffmann v. Fallersleben) beschreibt die deutsche Einigung im 19. Jh. und damit einen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Heute unterliegt sie der Gefahr, revanchistisch missverstanden zu werden (Drohung gegen den polnischen, italienischen, dänischen, belgischen Nachbarn).

3. Impuls: Gemeinsames Singen des Liedes „Ännchen von Tharau“

Vorangeschaltet wurde die Darstellung des historischen Hintergrundes: Tharau, heute Wladimirowo, liegt südlich von Kaliningrad / Königsberg im Kaliningrader Gebiet Russlands („Baltenrussland“). Das Lied von Simon Dach war bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg die „Hymne“ der heimatvertriebenen Baltendeutschen und wirkt deshalb für die einen hochemotional, für andere jedoch „belastet“.

4. Impuls: Romanauszug „Finale Berlin“ von Heinz Rein (1947)

Der Romanauszug veranschaulicht die Kontroverse über den nationalsozialistischen und militaristischen Missbrauch deutschen Liedguts (Traditionsbruch). Lieder werden bis heute oft mit „Helm und Panzer“ verbunden und lösen oft Schamgefühle aus.

Ziel dieses Impulses war die differenzierte Betrachtung der Begriffe Nationalismus (abgrenzend, aggressiv) und Patriotismus („heimatverliebt“, fröhlich, unaggressiv, nicht abgrenzend).

Gibt es neue Heimatlieder?

Nach den traditionellen Heimatliedern wurde anschließend der Übergang zu den neuen Heimatliedern durch das Ansingen des Liedes Massachussetts von den Bee Gees gelegt. Als weitere neue Heimatlieder sind beispielhaft folgende Lieder zu nennen:

  • Bochum
  • ’54, ’74, ’90, 2006
  • Viva Colonia
  • Country Roads

Neue Heimatlieder sprechen, ähnlich wie die traditionellen, Emotionen an. In ihrem modernen, popmusikalischen Gewande wirken sie jedoch attraktiver, leichter und identitätsstiftend. „Lokalpatriotismus“ ist in Ordnung, „Lokalchauvinismus“ (=erhebt sich über andere) ist es nicht.

Fazit

Heimatlieder gibt es bis in die kleinsten Einheiten (z.B. Drubbel-Lied, Münster). Je übersichtlicher der besungene Ort, desto höher die Chance zur Identitätsstiftung. Viele Quartiere, Stadtteile oder Nachbarschaften haben inzwischen ihre „Hymnen“. Daher drängt es sich nahezu auf, Lieder in die Quartiers-/Nachbarschaftsarbeit einzubeziehen.

Gründe für die Einbeziehung von Liedern zur Gestaltung des Nachbarschaftslebens:

  • Identitätsstiftung
  • Gemeinschaftsgefühl
  • „Sinnliche“ Erlebnisse, nicht nur Kopfarbeit

 Gestalter/-in des Workshops und Autor/-in:

Foto von Manfred Kehr
Manfred Kehr

Manfred Kehr
Mitarbeiter der Stadtverwaltung Ahlen, Leitstelle „Älter werden“

Nebenberuflich:
Musiker und Musikkabarettist
Buchautor „Das Münsterland und seine Lieder“ – ein kommentiertes Liederbuch

Kontakt:
Manfred Kehr
Weißenburgstraße 42
48151 Münster
Tel. 0251 – 79 17 12
kehr@muenster.de
www.toettchenundpumpernickel.de
| www.kappe-app.de

Foto von Annika Schulte
Annika Schulte

Annika Schulte, M.A. Gerontologie, ist Koordinatorin der Landesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros Nordrhein-Westfalen.

Kontakt:
Landesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros NRW (LaS NRW)
c/o Seniorenbüro Ahlen
Wilhelmstr. 5 in 59227 Ahlen
Tel.: 02382-94099714
E-Mail: info@las-nrw.de
www.las-nrw.de

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