„Partizipation ist die gelebte Selbstwirksamkeit – Kompromissloser Erfahrungsaustausch“

Die Vielfalt der Gesellschaft erfordert vom Haupt- und Ehrenamt in der Seniorenarbeit neue Konzepte, kooperative Strukturen, kreative Formen der Ansprache und innovative Maßnahmen. Nur in einem kollegialen und gleichberechtigten Miteinander sind diese Herausforderungen zukünftig zu bewältigen.

In den Workshops der Landesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros NRW stand primär das Erfahrungswissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Fokus.

Die Vielfalt der gemachten Erfahrungen in der täglichen Arbeit sorgte für anregende Diskussionen, boten Inspirationen und veranlassten zum Nachmachen. Ein wichtiger Grund für das Gelingen der Workshops und die konstruktive Atmosphäre war zum einen die Zusammensetzung des Plenums aus ehrenamtlich Engagierten und hauptamtlich tätigen Personen sowie zum anderen die überaus hohe als auch aktive Beteiligung. Aufgabenstellungen und Übungen wurden fortwährend aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. In diversen Übungen mussten die Teilnehmenden zudem ihre eigenen Überzeugungen über Bord werfen und Rollen einnehmen, die sie im „realen“ Leben so nicht vertreten würden und ihnen somit viel abverlangten.

Zu Beginn wurde auf die im Titel des Workshops enthaltenden Begriffe Partizipation und Selbstwirksamkeit eingegangen.

Partizipation – Selbstwirksamkeit

Als wissenschaftlicher Begriff, lässt sich Partizipation in unterschiedlichen Deutungszusammenhängen betrachten. Die soziologische Perspektive ist im Kontext offener Seniorenarbeit und durch den Einschluss politischer sowie gesellschaftlicher Blickwinkel augenscheinlich von besonderer Relevanz.

Partizipation aus soziologischer Sicht bedeutet, dass Personen und Institutionen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse einbezogen werden. Die konkreten Beteiligungsformen können z.B. betriebliche Mitbestimmung, direktdemokratische Entscheidungsverfahren, Bürgerentscheide, Runde Tische, Web 2.0, Interessenverbände oder politische Parteien u.v.m. sein. Sie alle führen zu einem wesentlichen Ergebnis: Aufbau sozialen Kapitals (Bourdieu 1983, Putnam 1993).

Das soziale Kapital ist hierbei als eine „wohlfahrtssteigernde soziale und moralische Kompetenz der Gesellschaft“ (Offe 1999) zu begreifen. Dabei sind zwei unterschiedliche Diskurse erkennbar. Zum einen der Ansatz des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und zum anderen die Perspektive des Politologen Robert D. Putnam aus den USA.

Letzterer sieht das soziale Kapital, wie auch Erich Fromm als „sozialen Kitt“ gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es kann in drei Bereiche aufgeteilt werden: soziales Vertrauen, Normen generalisierter Gegenseitigkeit (Helfe ich Dir, kann ich erwarten, dass Du mir hilfst, wenn die Notwendigkeit besteht) und kleine lokale Vergemeinschaftungen („Assoziationen“), die durch persönliche und zwischenmenschliche Interaktionen generalisierte Gegenseitigkeitsnormen herausbilden. Im Mittelpunkt stehen hierbei traditionelle Zusammenschlüsse wie Vereine, Initiativen und andere Bündnisse auf freiwilliger Basis. „Fähigkeiten […], Aufmerksamkeit, Vertrauen, Organisationsfähigkeit […] und Toleranz gegenüber Fremden, die im Vereinsleben erworben und verstärkt werden […] können einen wesentlichen Beitrag zur demokratischen politischen Kultur“ (Offe & Fuchs 2001) leisten und somit Tendenzen des Individualismus und die damit einhergehenden Auflösungserscheinungen sozialen Zusammenhalts entgegenwirken.

In diesem Zusammenhang ist auch die Selbstwirksamkeit der handelnden Personen zu nennen, also z.B. die Lust, sein eigenes Lebensumfeld mitzugestalten – Prozesse initiieren und begleiten. Das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura 1997) ist demnach ein situationsspezifisches Konstrukt und beruht darauf, dass Menschen ihre Erfahrungen – ob Misserfolg oder Erfolg – sich selbst zuschreiben und generalisieren können. Dabei spielt die subjektive (persönliche) Überzeugung, neue oder schwierige (kritische) Situationen aller Lebensbereiche zu überwinden, eine wichtige Rolle. Selbstwirksamkeit kann demnach dazu führen, dass sich Menschen in den Lebensbereichen engagieren, auf die sie direkt Einfluss nehmen können oder in denen ihnen durch Partizipation eine direkte Mitbestimmung und Willensbildung ermöglicht wird.

In diesen Deutungszusammenhängen kann demnach die Partizipation auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene als die strukturelle Bedingung angesehen werden, die es ermöglicht, dass Menschen an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen mitwirken können. Dies setzt auf personeller Ebene voraus, dass die handelnden Personen eine positive Selbstwirksamkeit entwickelt haben bzw. ihnen dies ermöglicht wird.

Der „Speed-Erfahrungsaustausch“

Wie der Titel bereits vermuten lässt, handelt es sich hierbei um eine zeitlich begrenzte Übung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bildeten einen Kreis und erhielten die Aufgabe ihre Erfahrungen zu den Begriffen „Partizipation“ und „Selbstwirksamkeit“ mitzuteilen. Für jeden Begriff hatte die gesamte Gruppe fünf Minuten Zeit, sodass für jeden einzeln Teilnehmer bzw. jede einzelne Teilnehmerin 15 Sekunden für die Beantwortung blieben. Eine tickende Eier-Uhr wurde weitergereicht und erhöhte den zeitlichen Druck.

Die Übung dient dazu, in kurzer Zeit den Wissensschatz des Plenums zu heben und zur Vorbereitung der darauf folgenden Debatte.

Die Debatte als Form des Erfahrungsaustausches und der Reflexion

Diese Übung stellte den Kern des Workshops dar und war zugleich für einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer die herausforderndste Aufgabe. In Anlehnung an die Ergebnisse der vorangegangenen Übung und des Themas der 3. Herbstakademie sollte nun anhand zweier provokativer Thesen eine geführte Debatte beginnen:

  1. These: „Ehrenamtliche sehen Hauptamtliche als persönliche Dienstleister“
  2. These: „Hauptamtliche manipulieren Ehrenamtliche und sehen sie in ihnen die Möglichkeit Lücken in Projekten zu stopfen“

Einen wesentlichen Bestandteil dieser Übung machte der Rollenwechsel vieler Teilnehmer/-innen aus. Jene, die hauptamtlich tätig sind, nahmen z.T. die Perspektive von ehrenamtlich engagierten Personen ein und umgekehrt. Zugleich musste ein weiterer Rollenwechsel vorgenommen werden: Die Teilnehmenden sollten eine Überzeugung und Haltung vertreten, die nicht ihren tatsächlichen Wertvorstellungen und Handlungsmustern entsprechen. Das Plenum wurde den zwei Thesen zugeordnet. Diese zwei Gruppen wurden wiederum in eine Pro- und in eine Contra-Gruppe unterteilt. Nach einer entsprechenden Vorbereitungsphase begann die Debatte.

Die Reaktionen und Verhaltensweisen der Teilnehmer/-innen in ihren jeweiligen Rollen bildeten den Nährboden der Debatte. Die Vielfalt zukünftiger Herausforderungen in der Zusammenarbeit von „Hauptamt“ und „Ehrenamt“ aus unterschiedlichen Perspektiven wurde unmittelbar spürbar. „Es macht Spaß, sich in einer Rolle emotional aufzuladen“, so ein Teilnehmer. Die Teilnehmenden berichteten zudem von einer stärken Reflektion ihrer Selbstwahrnehmung, der Differenzierung ihres Einfühlungsvermögens sowie dem Verständnis für die dargestellten Personen: „Wir haben durch die Szenarien gemerkt, dass so etwas (Ausnutzen von Ehrenamt: Anm. d. Verf.) oftmals auch vorkommt, daher sollten transparentere Strukturen geschaffen werden“.

Die Einstellung aus eigenem Antrieb und einer wertschätzenden Haltung heraus etwas zu bewegen, zu verändern und zu verbessern, war ein weiterer Punkt, der vereinzelt Teilnehmer/-innen in Konflikte mit der einzunehmenden Rolle brachte: „Die Argumente, die ich vorbringen musste, haben mich schon nachdenklich gemacht“.

Aber es wurden auch konkrete Wünsche und Bedarfe für eine gelingende Zusammenarbeit von ehrenamtlich Engagierten und hauptamtlich Tätigen aufgezeigt, die an dieser Stelle zusammengefasst dargestellt werden:

  • Hauptamtliche sollten als Unterstützer und Begleiter auftreten, sich wenn nötig als Fachexpert/-innen einbringen und für das Ehrenamt notwendige Strukturen aufstellen.
  • Ehrenamtliche engagieren sich aus Gründen der Empathie.
  • Auch Hauptamtliche haben ihre Belange, auch sie brauchen Lob.
  • Hauptamtliche sollten sich öfter wertschätzend gegenüber engagierten Personen zeigen: z.B. Einfach mal nachfragen, wie es gerade in der Gruppe läuft.
  • Ehrenamtliche sollten selbstbestimmend entscheiden wie viel sie geben wollen.
  • Das Ehrenamt soll das Hauptamt nicht ersetzen, z.B. bei der Pflege.
  • Ein konfliktfreier Umgang sowie das Vorbeugen von Spannungen kann durch die Schaffung von Transparenz erzielt werden.
  • Es muss eine klare Aufgabenteilung zwischen Haupt- und Ehrenamt zu erkennen sein.
  • Ehrenamtliche müssen das Gefühl haben, auch einmal nein sagen zu können.
  • Es muss mehr Freiraum für die persönlichen Belange Ehrenamtlicher geschaffen werden, das fördert auch deren Motivation.
  • Wertschätzung hat etwas mit Ehrlichkeit zu tun.
  • Anerkennung heißt, etwas für andere sichtbar machen.
  • Manipulation führt zu Demotivation, zur Beendigung des Ehrenamtes und dadurch zum Verlust von Erfahrungswissen.
  • Ehrenamtliche und Hauptamtliche können sich gegenseitig Impulse geben
  • Ehrenamtlich Engagierte möchten Hauptamtlichen auch mal Verbesserungsvorschläge mitteilen.
  • Ehrenamtliche und Hauptamtliche haben immer nur begrenzte Ressourcen und sollten daher ihre jeweiligen Potentiale stärker hervorheben.

 Der Workshop machte deutlich, dass das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven zu einer übergeordneten Sicht führte. Der Prozess von der reinen Handlung hin zu einer Reflexion bedeutet, zur Einsicht sozialer Erfahrungen zu gelangen. Durch die persönliche Aktion von Spontanität und Kreativität erhielt das ohnehin schon wichtige Thema nochmals eine stärke persönliche Bedeutung. „Ich brauche keine Strukturen, sondern einen Menschen, der mit mir redet!“

 Autor und Referent:
Julius Völkel, ist M.A. Gerontologe und derzeit Koordinator der Landesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros NRW. Darüber hinaus ist er in weiteren Projekten wie der Zukunftswerkstatt Demenz in Ahlen tätig.

Referentin:

Lena Leberl ist verantwortlich für die kommunale Leitstelle „Älter werden in Ahlen“, M.A. Gerontologin

Literatur:

Bourdieus, P. (1983). Ökonomisches KapitalKulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183-198.

Offe, C. (1999). „Sozialkapital“. Begriffliche Probleme und Wirkungsweise, in: Ernst Kistler/Heinz-Herbert Noll/Eckhard Priller (Hrsg.), Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts. Empirische Befunde, Praxiserfahrungen, Meßkonzepte, Berlin, S. 118.

Offe, C. & Fuchs, S. (2001). Schwund des Sozialkapitals? Der Fall Deutschland, in: Robert D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh, S. 417-514.

Putnam, R.D. (1993). Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton – New Jersey.

Letzte Aktualisierung: 24. November 2014

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